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Neulich in der Innenstadt

Falls es noch keinem aufgefallen sein sollte: es weihnachtet gar sehr (sprach’s und warf ein paar künstliche Schneeflocken in den viel zu warmen Dezemberhimmel). Und auch, wenn sich der Hype, den wir veranstalten, arg in Grenzen hält, das ein oder andere Geschenk, möchte wenigstens für die Kinder der Familie besorgt sein (wobei wir enormen Spaß hatten, besonders unsere Innenkids).

So zog dann unsereiner mit ner Menge Ideen im Kopf und bewaffnet mit EC- und Kreditkarte todesmutig gen völlig überfüllter Fußgängerzone in der örtlichen Innenstadt.

Überfüllte Fußgängerzonen zeichnen sich dadurch, dass sie eine ganze Menge Menschen beinhalten („Ernsthaft?“ „Ja, ich sag’s dir doch“ „Schockierend!!!“). Unsere Stadt ist verhältnismäßig übersichtlich und wir leben seit mittlerweile 15 Jahren dort. Dadurch, dass wir wir über die Jahre hinweg in den unterschiedlichsten Netzwerken aktiv waren oder auch noch sind (Sei es durch unsere Musik, Uni, Kirchengemeinde oder Job), haben wir eine Menge Bekannte. Und dadurch, dass sich diese Aktivitäten sich zum Teil auf bestimmte Innenpersonen von uns beziehen und nicht jeder andere von uns da immer Anteil nimmt oder nehmen kann, hat auch nicht jeder einen Überblick z.B. über die geknüpften Kontakte.

So begab es sich also, dass ein Pärchen in besagter Fußgängerzone recht zielstrebig auf uns zusteuerte. Sie winkte währen er laut: „Nina, hey Nina [sämtliche Namen von der Redaktion geändert], dich hat man ja schon ewig nicht mehr gesehen!“ rief.

Gut dachte ich mir, die scheinen wohl tatsächlich mich zu meinen, jedenfalls sehen sie auch beim Näherkommen nicht so aus, als hätten sie sich geirrt, meinen Namen trage ich in der Regel auch nicht auf einem Pappschild mit mir rum.

Ein verzweifeltes Wühlen in den eigenen Hirnwindungen begann, aber ich konnte die Gesichter beim besten Willen nicht zuordnen, ja nicht einmal erinnern. Aber gut, das kennen wir ja schon, passiert nicht zum ersten Mal (und auch nicht all zu selten), dass sich jemand von uns – in diesem Falle ich – sich mit einer Bekanntschaft einer anderen Innenperson konfrontiert sieht

Kleiner Zeitsprung:

Ich war ungefähr 8 Jahre alt und stand vor dem Haus meiner Klavierlehrerin, den „Czerny Krentzlin“ fest im Arm. Wie ich dort gelandet war, war mir auch damals nicht ganz klar, aber Amnesien und Zeitlücken gehörten zu der Zeit schon zu meinem Leben dazu und da ich nie etwas anderes kannte, war es meine „Normalität“. Da sich mein Finger bereits am Klingelknopf befand ging ich davon aus, dass wohl zum Unterricht gehen sollte.

Im Treppenhaus begegnete mir ein anderes Mädchen, vielleicht zwei oder drei Jahre älter als ich. Sie kam freudestrahlend auf mich zu.
„Hallo Nina, du warst ja schon seit Monaten nicht mehr hier. Ich hab gehört du warst so schlimm krank.“

Ich habe wirklich angefangen zu schwitzen, als ich verzweifelt versuchte mich zu erinnern welche Krankheit das wohl gewesen sein mochte und stellte fest, dass ich keine Ahnung hatte, was in den vergangenen Monaten gewesen war. Es war eindeutig Herbst. Auf dem Hof vor dem Haus der Klavierlehrerin lagen überall Haufen mit braunem Laub. In meiner letzten Erinnerung war es noch später Frühling, ich durfte mit meiner Cousine und meinem Onkel zu Himmelfahrt eine kleine Wanderung unternehmen.

„Ja.“, sagte ich, „Es geht mir aber schon wieder viel besser.“ Und es fühlte sich wie eine Lüge an.

Erleichtert, dass diese Antwort das Mädchen zufrieden zu stellen schien, verabschiedete ich mich und steig weiter die Treppen zur Wohnung der Klavierlehrerin hinauf.

Danach war ich auch schon wieder „weg“.

Ich hoffte also in dem nun beginnenden Small-Talk einige Hinweise darauf zu finden, woher man nun dieses Pärchen kennen könnte.

Ich: „Oh, schön euch mal wieder zu sehen, wie geht’s euch denn?“ (Bloß allgemein bleiben, da kann man nicht viel mit falsch machen)

Sie: „Ganz gut soweit… und dir?“ (Wahnsinnig hilfreich)

Ich: „Sehr gut. Viel zu tun, neuer Job und so, aber macht wirklich Spaß.“

Er: „Oh prima, was machst du denn jetzt?“

Ich erzähle und bin derweil immer noch nicht schlauer wie und wo ich die beiden zuordnen soll. Stelle erneut eine Frage: „Und ihr beiden, was gibt’s bei euch Neues?“

Sie: „Wir haben ja im Sommer endlich geheiratet.“ Sie hält mir stolz ihren Ehering unter die Nase, ein hübsches und interessantes Stück geziert von einer kleinen, polierten Froschkönig-Krone. „Schau, die hat Tina für uns angefertigt.“ (Es wird wärmer. Tina, eine Goldschmiedin, kenne ich. Das schränkt den Kreis der Verdächtigen trotzdem nicht ein. Tina ist ein regelrechter „Socializing-Guru“.)

Er: „Wir hätten es ja schön gefunden, wenn du auch auf der Hochzeit gespielt hättest. Wann hört man denn mal wieder was von dir?“ (Aha, Musik. Eine – wenn auch nicht besonders nennenswerte – Einschränkung des Kreises der Verdächtigen.)

Ich entschuldige mich und erwähne, dass ich (will in diesem Zusammenhang heißen die normalerweise musizierenden Innenpersonen von uns) im Moment aus Zeitmangel ohnehin nicht viel aktiv mache, aber neue Projekte schon wieder am Start sind (so viel bekomme ich dann immerhin doch mit).

Sie: „Das verstehe ich. Ich komme im Moment auch nicht mehr dazu.“ (Warm. Scheint eine „befreundete“ Musikerin zu sein.)

Wie bei Small-Talk üblich erschöpft sich der Gesprächsstoff schnell und wir verabschieden uns, nicht ohne das beiderseitig obligatorische Versprechen, dass man sich mal wieder melden würde und man zieht von dannen um seiner zuvor schon beschrittenen Wege zu gehen.

Irgendwann zu Hause angekommen packt mich erneut die Neugier. Ich krame in einer Kiste mit alten Jahrbüchern, Fotos und Sonstigem mit Erinnerungswert und ziehe einige Konzertveranstaltungsprogramme hervor. Ich werde tatsächlich fündig. Über den Fotos der beiden, die mir in der Innenstadt begegnet waren, prangt der Name einer Band, darunter ihre eigenen. Also doch richtig geraten. Eine gewisse Genugtuung erfüllt mich. Insgesamt ist dieses Aufeinandertreffen ohne über die Maßen merkwürdig zu werden über die Bühne gegangen.

Und weil ich ein freundlicher Anteil unseres Systems bin, mache ich in unserem gemeinsam geführten Kalender und Tagebuch eine Notiz: „Alexandra und Tobias Müllermeyer in der Stadt getroffen. Sind so verblieben, dass wir uns bei Gelegenheit mal wieder bei ihnen melden.“

13 Kommentare zu “Neulich in der Innenstadt

  1. Hallo, wenn ich diesen Beitrag lese, dann weiss ich nicht ob ich lächeln oder traurig sein soll. Ich lächle, weil ich finde, dass Ihr das ganz großartig gemeistert habt und das es doch einer gewissen Komik gewahrt. Deshalb, weil es sicherlich auch Menschen ohne Innenwelt ab und an so geht, dass sie sich mit quasi Fremden im Smalltalk verlieren und sich danach fragen, wer das war.

    Traurig, weil ich ahne welch Anstrengung es ist, wenn man mit so Situationen oft konfrontiert wird und umso trauriger, weil ich es einfach gemein finde, dass die die dafür verantwortlich sind, dass es Euch so geht, wahrscheinlich so weiter machen können wie bisher und Ihr diejenigen seid, die mit den Folgen klar kommen müssen. Und da sind solche Anekdoten wie die obige noch die, welche mit einem Lächeln verbunden sein können.

    Ich bin so dankbar, das mir das mit den Zeitlöchern ersparrt bleibt. Ich glaube nicht, dass ich so souverän damit umgehen könnte. Mich würde das in Panik versetzen. Ich gerate ja schon bei viel harmloseren Dingen in Panik und Angst.

    Von daher bleibt mir nur einmal wieder zu sagen, dass ich es bewundere, wie Ihr mit Eurem Leben klar kommt. Ihr habt echt meine Hochachtung.

    • Dank dir 🙂

      Ich muss zugeben, dass ich selbst da nichts Trauriges dran finden kann, auch hält sich die Anstrengung in Grenzen. Mit Zeitlücken und den daraus resultierenden Problemen habe ich zu tun, so lang ich denken kann. Sicherlich nicht immer einfach, aber nichts, worunter ich ernsthaft leiden würde. Sicherlich, manchmal erscheint einem der (vermeintliche) Kontrollverlust größer als zu anderen Zeiten, aber oft genug merkt man es gar nicht so deutlich, dass man eine kürzere oder längere Periode nicht mitbekommen hat – schließlich ist das die eigentliche Normalität für uns. Ich bin im Gegenteil eher überfordert, wenn es mal einen der seltenen Tage gibt, wo ich von morgens bis Abends ohne längere Unterbrechungen „das Ruder in der Hand halte“ und es nicht an andere abgebe(n) (muss) oder es mir aus der Hand genommen wird.

  2. Das sind die Situationen bei denen ich immer denke, dass diese Menschen eigentlich arme Socken sind.
    Schau- die Amnesie bringt dich dazu zu überlegen was dich/ euch als Gesamtperson mit ihnen verbindet und wer diese Menschen sind.
    Diese Menschen merken nicht wie eindimensional der Kontakt ist und kommen nicht einmal auf die Idee darüber nachzudenken, mit wem sie sich eigentlich so umgeben.
    Mir kommt vor als wären sie amputiert im Bewusstsein… allein schon dadurch, dass ihnen nicht bewusst ist, dass sie es sind… 😉

    Macht euch schöne Feiertage 🙂

    • So „unheimlichen“ Begegnungen der unbekannten Art sind mir auch nicht fremd, was mit einer Jugend einiger konsequent übertriebener Parties zu tun hat. So haben sich mir Zeitlücken und Amnesien allerdings erst im Laufe der Jahre offenbart. Das ist zwar nicht das gleiche, aber Ich glaube ich kann mir schon ein bisschen vorstellen wie sich das anfühlt.

      @inneres Stimmchen
      Ich kann deine Aussage nicht bestätigen. Ich habe im Laufe meines Lebens viele Menschen kennen gelernt. Einige die sehr wohl große innere Tiefe aufwiesen und keinen Traumahintergrund hatten, und andererseits habe ich auch schon Multis getroffen die eine überaus eingeschränkte Weltsicht und Eindimensionalität hatten.
      Ich glaube zwar das jemand der am Abgrund seiner Existenz gestanden hat, durch diese Erfahrungen eher den Wert des Lebens zu schätzen lernt, aber eine grundsätzliche Regel ist das nicht.
      Nicht alle die in ihrem Leben Schlimmes erlebt haben, werden dadurch zu besseren Menschen.

  3. Aber es gibt doch auch Menschen, die nicht amputiert sind in ihrem Denken und sich sehr wohl darüber Gedanken machen mit wem sie zu tun haben und mit wem sie sich umgeben. Ich verstehe nicht so ganz was das mit dem Beitrag zu tun hat. Möchtest Du damit sagen, dass Menschen die keine DIS haben, im Kontakt haben amputiert sind?

  4. Ein Psychologe, den ich kannte von der Ausbildung her, schonte mich in ähnlicher Situation nicht: „Verzeihen Sie bitte, ich kann Sie nicht einordnen“, gestand er überaus freundlich.
    Nach meinem Empfinden ist es kein unbedingtes Krankheitszeichen, dass uns während eines geselligen Lebens Menschen entfallen. Wobei mir als bemerkenswertes wie auch typisches Beispiel eine junge Frau im Gedächtnis geblieben ist, die nach ihrer „großen“ Liebe aus Jugendzeiten fahndete. Endlich aufgespürt, konnte die Liebe ihres Lebens sich nur undeutlich erinnern: „Haben wir…?“ Ja, sie hätten! Worauf ihr ehemaliger „Lebensmensch“ feststellte, dass es damals wohl eine „wilde Zeit“ gewesen sei…
    Verhaftet von unserem Ich, neigen wir mehr oder weniger dazu, uns falsch einzuordnen. Da wir an uns selbst schwerlich spurenlos vorüber gehen können. Vielleicht geradezu erfrischend also, wenn jemand uns fassungslos begegnet, wer wir denn wären?
    Weihnachten auf unseren „Erlebnismeilen“ ist selbstverständlich eine ziemliche Verzweiflung für mich. Weil Weihnachten noch heller strahlt, was alle um mich herum sich vom Leben wünschen, worauf sie hinarbeiten und hinsparen…

    • Natürlich ist die Unfähigkeit einen Bekannten wiederzuerkennen kein zwingendes Krankheitssymptom, nebenbei wird hier das Gegenteil auch mit keinem Wort behauptet. Unser Blog heißt „Leben mit dissoziativer Identitätsstörung“ und genau darüber schreiben wir. Hätten wir hier miteinander nicht ständig Diskussionen und Kommentare des Kalibers „Thema verfehlt“, würde ich einfach denken, dass dieses Faktum beim allabendlichen Blogstöbern untergegangen ist (kann ja gern mal passieren).

      Was wir an dieser Stelle beschreiben geht über Vergesslichkeit, die das handelsübliche Maß überschreitet hinaus (normal vergesslich sein können wir auch, genau wie jeder andere Mensch) und ist hier schon einer der Auswüchse, die Dissoziation haben kann, denn wir wiesen ja darauf hin, dass wir darüber schreiben, wie es aussehen kann, wenn eine Innenperson eines gegebenen Systems auf die Bekanntschaft einer anderen Innenperson trifft, welche sie selber aber nicht kennt. Die Leute aus unserem System, die mit oben genanntem Pärchen Musik gemacht haben, kennen die beiden und wissen bestimmt auch noch die eine oder andere Anekdote zu erzählen, während andere – wie ich z.B. – die beiden quasi „nie gesehen“ haben.

  5. Nein Seelenlabyrinth das wollte ich damit nicht zum Ausdruck bringen.
    Ich denke, dass ich wenn ich Kontakte habe, die mich als mich in nur einem Zustand kennen, einen ziemlich verstümmelten Kontakt dort habe. Wo von mir nur ein Innen bekannt ist (und der Rest aber nicht), da ist der Rest der mich aber auch ausmacht einfach weg. Wie abgeschnitten. Wie amputiert.
    Ich kann das merken, wenn ich solche Begegnungen habe wie hier beschrieben. Die Menschen aber nicht.
    Ich kann nach Hause gehen und mir aufschreiben: Hey Menschen XY getroffen AB ausgemacht.
    Was können die Menschen machen? „XY getroffen, war nett- aber irgendwie war sie schräg drauf heute…Als wäre sie gar nicht sie selbst“
    Ist es so deutlicher was ich meine?

  6. Hallo inneres Stimmchen, ja jetzt ist klarer was Du gemeint hast. Dabei hab ich es genau anders herum verstanden. Zur Zeit eine Paradedisziplin von mir (sry. off topic).

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