Es ist gar nicht so leicht mit Verständnis umzugehen

Es ist überhaupt kein Problem auf Unverständnis zu stoßen.

Das ist super einfach. Immerhin hat unsereiner ein ganzes Füllhorn an Neurosen und Neuröschen zu bieten, merkwürdige Tics und Zwänge, diese schwer nachvollziehenden „Stimmungsschwankungen“, oft gepaart mit den fehlenden Erinnerungen an das, was doch gerade erst vor zehn Minuten passiert ist. Um seine arme, geschundene Umwelt nicht über die Maßen zu belasten legt man sich ein Arsenal an hübschen kleinen Ausreden zurecht, nichtssagenden Erklärungen, mehr oder weniger humorvolle Kommentare und lernt schnell und unauffällig das Thema auf etwas anderes zu lenken. Immer passend für die jeweiligen Individuen, dieser armen, geschundenen Umwelt. Wem es so am liebsten ist, betrachtet einen als „schrullig“, zerstreut oder schlichtweg verrückt und überlegt sich dann, welcher Grad an Oberflächlichkeit am angenehmsten erscheint.

Für Menschen, die sich mit einem anfreunden wollen um umgekehrt, wird es schwieriger. Wie tief geht man unter die Oberfläche? Wie ehrlich antwortet man auf die Fragen, die nach und nach kommen? Einzelfallentscheidung. Da kann man auch mal übers Ziel hinausschießen, wenn man nicht weiß wie viel Ehrlichkeit tatsächlich verstanden oder vertragen werden kann. Umgekehrt kann es genauso laufen, aus den gleichen Gründen. Man vollzieht einen Eiertanz, weil man den anderen doch so gern mag und Angst hat, wenn er mehr wüsste, dass das als unvermeidlich empfundene Unverständnis, der Strick für jeden engeren Kontakt wird.

Wenn es um um die eigenen psychischen Probleme, Störungen und Krankheiten geht, scheint die Hoffnung auf Verständnis doch… verständlich, oder? Auch wenn ich mir bei manchen Vertretern ihrer Zunft nicht so ganz sicher bin, wird ein Diplom oder ein Facharzt nicht bei einer Tombola verlost. Wenn man sich also auf zu Psychiatern und Psychotherapeuten macht, erfährt man doch hier und da Verständnis für die eigenen, erlebten Symptome in Form von Erklärungen, Diagnosen und Hilfestellungen. Aber auch hier, haben wir sehr schnell festgestellt, dass das Verständnis, je nach „Individuum der Kategorie ‚professioneller Helfer'“ früher oder später endet. Für die meisten dieser Individuen ist jegliche Hilfe damit auch beendet. Es scheint schwer zu sein mit etwas umzugehen, was man nicht versteht… oder verstehen möchte.

Der eine Psychologe sah sein Ende gekommen, als er nicht verstehen wollte, dass es Eltern gibt, die Kleinkinder gegen Geld anderen Menschen für sexuelle Handlungen anbieten. Eine andere Psychiaterin sah sich nicht im Stande hinzunehmen, dass eine 12-jährige bei einer Vergewaltigung nach einigen fruchtlosen Versuchen sich zu aufgibt und es in nachfolgenden Situationen gänzlich sein lässt, weil ihr die Drohungen noch in den Ohren klingeln. Schon erwähnter Psychologe verstand es auch nicht, das all die Innenpersonen nicht einfach verschwanden, jetzt, wo man doch wusste, dass sie da sind – und wenn das so schon nicht ging, dann sollte es doch genügen, wenn man über die Traumatisierungen einmal spricht (man bedenke: das wollte er letztendlich dann ja nicht mal mit der Kneifzange anfassen). Ein Psychiater drückte sehr unwirsch sein Unverständnis darüber aus, dass 25 Stunden Verhaltenstherapie nicht genügt haben eine Heilung herbeizuführen wohingegen eine andere Therapeutin nur jahrelange Therapie als Ausweg sah, besonders um diese armen, herzerweichenden traumatisierten Innenkinder zu trösten und zu versorgen. Ihnen war ja so viel Böses widerfahren, dass es gut zu machen galt. Dass (garantiert nicht nur unser) System aber zu großen Teilen eben nicht nur aus diesen weichen, gefälligen Kleinen bestand, sondern auch aus rotzfrechen Jugendlichen, Destruktiven, Leuten, denen Therapie und Therapeutin herzlich egal waren, Innenpersonen jeglicher Couleur, die das Gedankengut der Täter vollständig übernommen haben, die sich ohne den ständigen Kontakt zur Familie oder der RiGaG verloren fühlten, die diskutieren wollten oder einfach gehen. Es ist schwer für einen (professionellen) Helfer nachzuvollziehen, warum man nicht gleich wie auf Wolken schwebt, wenn man es nach und nach schafft die Verbindungen zu den Täterkreisen zu kappen, sondern dass man daraufhin oft in ein sehr tiefes Loch fällt.

Es gibt wenig Verständnis dafür, dass für einen großen Teil eines Systems, eines Menschen, eine menschenverachtende, gewaltverherrlichende und machtsuchende Ideologie alles ist, was man kennengelernt hat.

Es gibt wenig Verständnis dafür, dass lieber der Schmerz gesucht wird, den man kennt, als sich dem großen Unbekannten auszusetzen.

Damit nicht genug: Wer in einer RiGaG, bzw einem destruktiven Kult aufwächst, lernt systematisch auch Seiten in sich zu nähren, die keine große gesellschaftliche Akzeptanz (zu Recht, wie ich finde, nichtsdestotrotz scheinen sie ja menschliche Natur) erfahren, lernen Lust an Gewalt, den süßen Geschmack von Macht, das erhebende Gefühl der eigenen Grandiosität. Vor etwas über einem Jahr haben wir ähnliches in „Was der Dschungel mit der Hölle zu tun hat“ angesprochen.

Unserer Erfahrung nach hört es spätestens hier mit dem letzten bisschen Verständnis z.B. eines Therapeuten auf.

Umso verwirrter und geschockter sind wir, dass wir mit unserer Therapeutin jetzt das Gegenteil erfahren. Wir haben noch immer Angst bei jedem Kontakt, dass es der letzte sein wird. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie von uns angewidert ist, angenervt von der Art einzelner Innenpersonen oder uns als System im Ganzen. Wir haben bei ihr stärker, als wir das bisher irgendwo hatten, Angst vor Unverständnis. Jetzt dreht die gute Frau den Spieß aber um. Sie stellt unmissverständlich klar, was sie versteht, was sie kennt, denn wir sind nun mal nicht das erste multiple System mit einem Hintergrund ähnlich dem unsrigen, dass sie behandelt. Statt: „Warum geht das nicht?“, sagt sie eher: „Ich habe die Erfahrung gemacht, dass […], was halten sie von […]?“. Während wir uns noch den Kopf zerbrechen, warum jemand von uns gerade dieses oder jenes und völlig unverständliche Verhalten an den Tag gelegt hat, oder warum bestimmte Emotionen da sind, die nicht nachvollzogen werden können, ist sie da nickt und gibt uns das Gefühl, als wäre es das in der Situation Natürlichste der Welt.

Wir hatten gerade erst wieder eine dieser Situationen. Die Therapeutin ist gut. Gut in dem Sinne (denn natürlich hat das auch sehr viel mit persönlichen Bedürfnissen zu tun), dass sie uns nicht den Weg ums eigentliche Thema herum durchgehen oder uns Zeit mit vorgeschobenen Pseudoproblemchen totschlagen lässt. Sie sagt uns auch direkt und ohne viele Umschweife an sich ganz einfache Wahrheiten ins Gesicht, die uns meist auch leicht in selbiges schlagen oder einen sanft bis kräftigeren Tritt in das psychische Äquivalent der Magengrube geben. Sie ist nicht dabei nie plump und scheint nie etwas zu sagen, ohne sich vorher vergewissert zu haben, dass es nicht nur ertragbar für uns ist, sondern auch hilfreich. Auch wenn die Metapher mit den ausgestanzten und zusammensetzbaren Bildern sehr ausgelutscht ist: wir puzzeln gemeinsam und immer wieder findet sie ein Teil, das an einer entscheidenden Stelle fehlte und nun wir es sind, die immer mehr verstehen. Sie kann uns nicht erzählen wer wir sind, wo wir herkommen und was wir erlebt haben, aber sie kann uns helfen zu verstehen, wie das alles, all dieses, was da ist, erkannt oder noch im Schatten, was da war, klar erinnert oder nur sehr bruchstückhaft und auch manches, was vielleicht noch auf zu zukommt, ein Ganzes ergeben könnte.

Es sollte erleichternd sein.

Versteht mich nicht falsch, das ist es auch… aber es fehlt uns noch der Umgang damit. Wir schwanken zwischen der Angst das zu verlieren oder aufzuwachen und festzustellen, dass nichts davon real war. Wir wissen nicht, ob dieses Verständnis echt ist, oder ob uns nur etwas vorgetäuscht wird, weil wir sonst eben ein hoffnungsloser Fall sind. Wir können nicht sagen ob all das nur eine Falle ist, die jederzeit zuschnappen könnte… jedenfalls warten wir innerlich jeden Tag darauf.