Von Inseln, Familien und der Wichtigkeit sozialer Netze

No man is an island, entire of itself; every man is a piece of the continent, a part of the main.

(Kein Mensch ist eine Insel, ganz in sich selbst; jeder Mensch ist ein Stück des Kontinents, ein Teil des Ganzen.)

Es wurde hier auch schon einmal John Donne zitiert. Man könnte meinen dieses Zitat hinge uns besonders am Herzen… nun… so ist es ja auch fast.

Ich glaube der Mensch ist ein Rudeltier und die Individualität ein geheiligtes Trugbild. Der proklamierte Individualist neigt ja auch dazu Uniform zu tragen – oder liegt es nur an mir, dass alle, egal ob Hippie, Punk, Visual Kei, Emo oder Goth, in sich irgendwie gleich aussehen und dass tausende deutscher Hausfrauen „Glaube, Liebe, Hoffnung“ in chinesischen Schriftzeichen auf dem Knöchel tragen um sich von der Masse abzuheben?

Ich verteufle den Herdentrieb nicht – im Gegenteil (für mich auch das Positive an sämtlichen Subkulturen). Wir Menschen brauchen einander mehr, als wir es uns manchmal eingestehen. Der Mensch als Mängelwesen ist auf die Gemeinschaft angewiesen und ich sehe mich oft mit den Nachteilen der Individualisierung in der Gesellschaft konfrontiert. Da ist die alleinerziehende Mutter, die nicht wüsste, wo sie ihr Kind lassen könnte, wenn sie sich unverhofft ein Bein brechen sollte oder die alte, alleinstehende Frau, die keine Lebensmittel mehr im Haus hat, weil es so glatt ist, dass sie mit ihren zwei künstlichen Hüften nicht das Haus verlassen kann.

Man könnte jetzt in Nostalgie verfallen und nickend seufzen:“Ja… früher war alles besser.“, doch halte ich das für im besten Falle nur halb wahr. Sicher, ich bin ein großer Fan der Institution der Großfamilie, der Dorfgemeinschaft, der Kirchengemeinde, aber ich sehe auch wie viele Zwänge damit einher gingen, dass Ausgegrenzte noch hilfloser waren als es Menschen ohne Anhang in den Betonburgen am Rande der heutigen Großstädte sind.

In jedem Fall sind die Anforderungen an den Einzelnen heute ganz andere, als sie es noch vor 200 Jahren waren. Das Arbeitsangebot und die Struktur moderner Großstädte reißt Familien oft räumlich auseinander und nehmen damit die für die Meisten wichtigste Stütze.

Ich habe ja schon gesagt, dass ich ein Fan des Konzeptes der Großfamilie bin, mehrere Generationen (unter einem Dach), die von einander lernen, sich gegenseitig unterstützen können. Nun waren meine Erfahrungen mit meiner Herkunftsfamilie gelinde gesagt suboptimal. Wenn ich dort etwas gelernt habe, so war es wie man es nicht machen sollte. Was Familie bedeutet und welchen Halt man dort finden kann, habe ich von und mit Menschen gelernt, mit denen mich weder eine Blutsverwandtschaft noch eine Heiratsurkunde verbindet. Ich habe heute eine wundervolle Familie und zwar eine Familie, die ich mir selbst gesucht habe. Nein, wir sind nicht verwandt, aber wir stehen füreinander ein, empfinden Verantwortung füreinander, teilen unser Leben miteinander.

Es war für mich nicht leicht an diesen Punkt zu kommen. Ich habe lange dem konservativen Familienbild hinterher gejagt immer getrieben von den ungestillten Sehnsüchten meiner Kindheit. Es hat gedauert bis ich erkannt habe, dass Familie weit mehr ist als Verwandtschaft oder Schwägerschaft und dass das/mein Verständnis von Familie einer Überholung bedarf. So pathetisch es klingen mag, aber für mich war das (über)lebenswichtig. Ich habe jetzt einen Platz im Leben, einen Ort, wo ich hingehöre, Verantwortungen, denen ich mich nicht so einfach entziehen kann und ich habe Halt. Es macht einen Unterschied ob ich da bin oder nicht.

Es ist gut jemanden zu brauchen und gebraucht zu werden.

Es ist gut jemanden zu haben. Schlimm ist es zu sehen, wie viele Menschen, die Unterstützung und Hilfe benötigen würden und die selber so viel zu geben haben, ganz allein gelassen sind. Nicht jeder hat das Glück aus einer intakten und großen Familie zu kommen, Vielen fällt es nicht leicht Kontakte zu knüpfen und unsere Gesellschaftsstruktur macht das nicht gerade einfacher. Wie oft habe ich es in Selbsthilfegruppen oder in Kliniken erlebt, wenn ich auf andere Multiple traf, dass der ambulante Therapeut meist der einzige Sozialkontakt war und man sich mehr schlecht als recht versuchte alleine durch ein sehr problembehaftetes Leben zu kämpfen (ich weiß, dass das natürlich nicht nur für Multiple, bzw. komplex Traumatisierte gilt, das ist lediglich der Blogschwerpunkt). Auf der anderen Seite erlebe ich, welchen Wert ein funktionierendes soziales Netz darstellt und dass es buchstäblich Leben rettet.

Wir wären heute nicht hier, wenn unser Netz nicht gewesen wäre. Als wir fielen hat es uns aufgefangen, als wir nicht mehr kämpfen konnten, als wir nicht mehr Leben wollten, als wir alles aufgegeben hatten. Ohne das Netz hätten wir nie die letzten Schritte des Ausstiegs aus „unserer“ RiGaG geschafft, denn es war auf einmal nicht mehr egal, was mit uns geschieht. Wir konnten nicht mehr „einfach so“ vom Erdboden verschwinden, unser Tod, selbst wenn es ein Selbstmord oder Unfalltod gewesen wäre, hätte viele unangenehme Fragen aufgeworfen. Dieses Netz, die Kontakte zu „Außenstehenden“ hat uns mit der Zeit für die RiGaG „unhaltbar“ gemacht, „unattraktiv“, es wurden weniger Energien investiert um uns bei der Stange zu halten. All das hat den Ausstieg für uns überhaupt erst möglich gemacht.

Wir sind all diesen Menschen, die für uns da waren und sind, uns unterstützt haben oder noch unterstützen – egal ob bewusst oder unbewusst, unendlich dankbar. Wir fühlen uns privilegiert, denn viel zu oft haben wir miterleben müssen, wie Andere es nicht geschafft haben, den Kampf verloren haben. Wir möchten so gerne weitergeben, was wir da erfahren und lernen durften. Wir versuchen unser Bestes zu geben und weiter Netze zu knüpfen, dabei selbst ein Knoten zu sein.

Therapie oder nicht Therapie; das scheint hier die Frage

Therapy or no therapy, that is the question:
Whether ‚tis nobler in the mind to suffer alone
The slings and arrows of outrageous fortune,
Or to take arms against a sea of troubles,
And by opposing, end them? To talk: to cry;

(frei nach Wilhelm Schüttelbier)

Der langanhaltenden Verzweiflung sind Frust und Resignation gewichen. In den letzten Monaten vermeide ich es wieder stärker mich mit der Frage nach professioneller Unterstützung, vor allem therapeutischer, auseinanderzusetzen. Habe schon Angst zu einer verhärmten, übellaunigen Psychotante mutiert zu sein. Ich hasse das. Ich sehe schwarz. Erhebe gerade nicht den Anspruch fair zu sein, Verständnis aufzubringen und. Nicht in diesem Moment. Im Alltag gebe ich mir Mühe – wenn ich aufpasse und mich nicht von meinen Emotionen überwältigen lasse. Schon klar, das Gesundheitssystem macht es vielen Ärzten sehr schwer sich angemessen um ihre Patienten zu kümmern. Der Beruf an sich ist eine große Herausforderung und verlangt einem viel ab. Die organisatorischen Schwierigkeiten, die sich ja auch nicht vermeiden lassen, sind ein zusätzlicher Stressor. Ich kenne auch die Inhalte der Ausbildungen, die Psychologen, Psychotherapeuten und FÄ für Psychiatrie oder Psychotherapie durchlaufen, weiß wie schwer es ist als psychologischer Psychotherapeut seine Kassenzulassung zu bekommen, weiß wie teuer und zeitaufwändig es für Therapeuten ist sich weiterzubilden.

Aber wie ich schon schrieb: Meine letzte Tüte Verständnis ist mir heute Morgen in der Handtasche ausgelaufen und hat hässliche Flecken auf dem Leder hinterlassen. Nächste Woche besorg ich mir ne Neue. Bis dahin fühl ich mich einfach nur allein gelassen.

Seit Jahren lass ich mir nun schon mein Hirn in den Mühlen des sozial-psychiatrischen Systems fein zermahlen. Immer wieder haben wir versucht uns Hilfe zu holen. Immer wieder landeten wir in psychiatrischen Einrichtungen, wurden von Arzt zu Therapeut zu anderem Therapeut verwiesen. Man klärte uns über unsere psychischen Störungen auf, erklärte uns, wir sollten dringend spezialisierte Fachleute aufsuchen, also taten wir das. Wir telefonierten, schrieben Briefe und Mails, führten Gespräche mit Therapeuten, Kliniken. In Kliniken erklärte man uns, wir müssten uns an ambulante Therapeuten wenden. Die Arbeit mit DIS-Patienten sei komplex und nur ambulant durchführbar. Ambulante Therapeuten verwiesen uns wieder an Kliniken, denn nur in einem stationären Setting sei es möglich mit unserer DIS und den Traumatisierungen zu arbeiten. Wir kamen uns vor wie ein schwarzer Peter, der weiter- und weitergereicht wird. Gingen in Kliniken, arbeiteten an der allgemeinen Stabilisierung, ließen uns immer wieder erklären, dass wir ja dringend eine Traumatherapie machen müssten, die Themen dringend angehen – aber bitte nicht hier. So ging es zu ambulanten Therapeuten, mit denen wir an der allgemeinen Stabilisierung arbeiteten, ließen uns erneut erklären, dass wir dringend unsere inneren Konflikte und die Traumatisierungen angehen müssen – aber bitte nicht hier.

Nach einigen Jahren dieses Hin und Her ist mir schwindelig. Wir fühlen uns verschaukelt.

Immer wieder fanden wir uns mit Mitmenschen konfrontiert, die meinten Ärzte und Therapeuten müssen ihre Probleme lösen, die sich auf dieser Erwartungshandlung ausruhten. Die hatten selten Schwierigkeiten eine Therapieplatz zu bekommen, einen Klinikplatz oder ähnliches. Wenn die vorhandenen Probleme nicht reichten, wurd einfach etwas mehr gejammert.

Wir hatten Probleme überhaupt Therapeuten zu finden, die sich bereit erklärten mit uns weiterzuarbeiten, sobald das offenbar aufregende Novum eine Differenzialdiagnostik mit einem Multiplen durchzuführen verflogen war. Die meisten stiegen aus, wenn es es um unseren Hintergrund von organisierter und systematischer Gewalt ging. Das Wenige an ernsthafter Therapie, was uns vergönnt war, haben wir versucht zu nutzen, so gut es geht. Die meiste Zeit waren wir auf uns gestellt, haben selbst versucht Interventionen zu entwickeln um mit Intrusionen umzugehen, uns als System kennenzulernen, Innenkommunikation aufzubauen, an Co-Bewusstsein zu arbeiten. Wir hofften in der Therapie wenigstens weitere Anregungen für unsere eigene Arbeit zu bekommen… die Therapeuten auf der anderen Seite schienen zu hoffen, dass Pandoras Kelch an ihnen vorübergehen möge…

Wir kämpfen immer noch dafür wenigstens für eine kurze Zeit eine ordentliche Therapie zu bekommen. Wir wünschen uns so sehr einen Therapeuten, der sich mit Traumatisierungen auskennt, der vielleicht auch die Umständen, in denen wir so lange gelebt haben, verstehen kann, jemanden, der bereit ist mit uns und unseren inneren und äußeren Konflikten zu arbeiten, jemanden, der sich an Absprachen hält.

Nur beginnen wir uns zu fragen, ob das alles überhaupt noch einen Sinn ergibt. Ein Psychiater sagte uns vor einiger Zeit, dass es an uns läge, wenn die 87 Therapiestunden, die wir in den vergangenen 10 Jahren hatten, nicht gereicht hätten. Kein Mensch könne Probleme haben, die sich mit einer einmaligen Verhaltenstherapie nicht lösen lassen könnten.

Wir haben uns so oft gewünscht Hilfe und Unterstützung zu haben. Glauben, dass viele Situationen der vergangenen Jahre etwas glimpflicher ausgegangen wären, wenn wir nicht allein auf uns gestellt gewesen wären. All unser Kämpfen um sinnvolle Unterstützung hat nichts gebracht. Immer, wenn wir glaubten etwas Sinnvolles gefunden zu haben, war es meist schon vorbei, bevor es überhaupt angefangen hatte.

Ja, wir sind frustriert und hart am überlegen, ob wir nicht einfach ganz aufgeben sollen. Immer wieder nagende Stimmen… es ist so unglaublich vermessen von uns zu glauben, wir hätten so etwas wie „professionelle Hilfe“ überhaupt verdient. Ich weiß nicht, ob es überhaupt nachvollziehbar ist… aber wir hängen an dieser Stelle fest.

Weiter suchen, weiter kämpfen oder es bleiben lassen und sich weitere Jahre Frust und Enttäuschung ersparen?